Ist die spezielle Krankenbeobachtung in der ambulanten Intensivpflege mit KI passé?
Text: Guido Faßbender
Die Reform der Krankenhausfinanzierung zu Beginn der 2000er Jahre bildete das Fundament für die Entwicklung von der Heimbeatmung zur ambulanten Intensivpflege. Der strukturelle Wandel, also die Verlagerung pflegerischer Bedarfe aus stationären Intensivbereichen in den häuslichen Kontext, geht maßgeblich auf die Einführung der G-DRG-Systematik zurück. Da diese eine ökonomisch relevante Verweildauer definiert, endet die stationäre Behandlung in der Regel, bevor eine vollständige restitutio ad integrum erreicht ist. Dies gilt selbst dann, wenn sich unmittelbar eine Rehabilitationsmaßnahme anschließt. Besonders betroffen sind Patienten mit zentralnervösen Läsionen, etwa nach einer Aneurysmaruptur oder einem Schädel-Hirn-Trauma. Komplexe Komorbiditäten wie Dysphagie nach Apoplex in Kombination mit einer bestehenden COPD führen häufig zu länger dauernden Pflegebedarf.

Mit dem Inkrafttreten des Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes (IPReG) wurde einerseits der Mangel an verbindlicher Regulatorik adressiert. Andererseits entstehen durch stärker formalisierten und auf Effizienz fokussierten klinischen Behandlungspfade neue Herausforderungen für die ambulante Intensivpflege.
Intensivpflege findet immer unter der Prämisse potenzieller Lebensbedrohlichkeit statt, unabhängig davon, ob sie in der Klinik, einer spezialisierten Wohngemeinschaft oder im individuellen häuslichen Umfeld erfolgt. Auffällig ist dabei die zunehmende fachliche Komplexität der Patientenkollektive. Multimorbidität, die Folgen von Intensivmedizin per se, hohe Komplikationsraten und instabile Verläufe kennzeichnen den Versorgungsalltag.
Damit steigen auch die Anforderungen an die Qualifikation des eingesetzten Personals sowie an die Bildungsangebote der Pflegeanbieter. Auf der Intensivstation übernehmen idealerweise Fachpflegekräfte für Intensivpflege mit zweijähriger Weiterbildung die Versorgung. Dieser Anspruch kann jedoch angesichts des flächendeckenden Fachkräftemangels selbst im stationären Bereich regelhaft nicht erfüllt werden.
Im ambulanten Bereich stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Hier handelt es sich um eine spezielle Form der Langzeitpflege. Ein multiprofessioneller Personalmix aus Altenpflege-, Gesundheits- und Krankenpflegekräften sowie ergänzend aus Fachpflegekräften für Intensivpflege ist daher nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.
Im intensivstationären Bereich der Klinik generieren technische Geräte kontinuierlich valide Messdaten. Dazu zählen Herzfrequenz, invasive Blutdruckwerte, zentrale Körpertemperatur, zentralvenöser Druck, pulmonalarterieller Druck, Herzzeitvolumen und Gefäßwiderstände aus dem Monitoring. Diese Informationen werden ergänzt durch Labordaten, Medikationspläne, Förderraten aus Infusions- und Spritzenpupen sowie dokumentierte klinische Beobachtungen. Sie werden im Krankenhausinformationssystem gespeichert und ausgewertet. Die hohe Datendichte bildet die Grundlage für die quantitative Anwendung medizinischer Scores, die pathophysiologische Muster erfassen, vergleichen und in Beziehung setzen. Der Einsatz von KI ist trotz der theoretischen Voraussetzungen in acht befragten Krankenhäusern der Maximalversorgung bislang nicht im Einsatz.
In der ambulanten Intensivpflege dagegen beruht die pflegerische Einschätzung primär auf der speziellen Krankenbeobachtung und der Interpretation individueller Phänomene. Erkenntnistheoretisch steht hier ein qualitativer Ansatz im Vordergrund. Die wenigen verfügbaren Messwerte, etwa peripher gemessene Vitalparameter, sind störanfällig und müssen kontinuierlich hinterfragt werden. Die daraus gewonnenen Informationen lassen sich clustern und dienen der Bearbeitung pflegerischer Fragestellungen, bleiben jedoch kontextabhängig.
Daten sind nicht gleichbedeutend mit Information. Information ist noch kein Wissen. Erst durch Kontextualisierung, Interpretation und Erfahrungswissen entstehen pflegerisch relevante Erkenntnisse. Das DIKW-Modell (Data – Information – Knowledge – Wisdom) zeigt, dass Pflegefachpersonen in der ambulanten Intensivpflege nicht auf rein quantitative Parameter angewiesen sind. Sie nutzen alle Sinne, handeln situativ, greifen auf Erfahrungswissen zurück und erkennen Muster, bevor diese in messbare Parameter übergehen.
Änderung im Gesundheitszustand bekommen durch allgemeine und spezielle Krankenbeobachtung Aufmerksamkeit und notwendige Bedeutung. Sie sind jedoch nur durch geschulte Wahrnehmung erfassbar. Eine standardisierte Messung ist in diesen Fällen nicht möglich, ihre Bedeutung für die pflegerische Entscheidungsfindung ist jedoch hoch.
Die spezielle Krankenbeobachtung setzt deshalb eine hohe Fachkompetenz voraus. Diese wird beispielsweise im Kompetenzstufenmodell von Patricia Benner beschrieben. Pflegekräfte beobachten nicht nur, sondern sie interpretieren, reflektieren und antizipieren. Sie erkennen drohende Verschlechterungen häufig, bevor diese sich in quantitativen Werten zeigen. Zur Erreichung dieser Expertise ist reflektiertes Erfahrungswissen und ein gutes theoretisches Fundament die fachliche Voraussetzung. Gerade im komplexen Alltag der ambulanten Intensivpflege, mit Herausforderungen wie Multimorbidität, häufig persistenter MRE-Besiedelung bei Aufnahme und eingeschränkten hygienischen Bedingungen, bleibt diese pflegerische Expertise unverzichtbar.
Die Steuerung des Wasser-Elektrolythaushalt geschieht in allen Settings gleichermaßen. Bei ambulanten Intensivpflegepatienten findet ein bedarfsadaptiertes Flüssigkeitsschema auf dem Boden der allgemeinen und speziellen Krankenbeobachtung statt. Hautfarbe und -temperatur, Hautturgor, venöser Rücklauf peripherer Venen, Feuchtigkeitsgrad der Schleimhäute, Viskosität von Trachealsekret, renaler Ausscheidung (Menge und Farbe des Urins), Herzfrequenz und Blutdruck (allgemeine Krankenbeobachtung) werden mit den Besonderheiten der jeweiligen Erkrankung in Beziehung gesetzt (spezielle Krankenbeobachtung) und entsprechend angepasst. Dies gilt umso mehr bei wechselnden klimatischen Rahmenbedingungen.
Fazit:
KI wird den Leistungsprozess der speziellen Krankenbeobachtung und die qualitative Interpretation pflegerischer Phänomene nicht übernehmen können. Das beruht auf der Tatsache, dass systemimmanent im ambulanten Lebensbereich keine kontinuierlich validen Messwerte vorliegen können und auch nicht müssen. Zur Planung der Personalentwicklung und Bildungsbedarfe hat sich des Kompetenzstufenmodell von Patricia Benner nach den Erfahrungen des Autors in der Praxis bewährt.
Benner, P. (2004). Stufen zur Pflegekompetenz: Von der Novizin zur Expertin. Göttingen: Hogrefe.
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. (o. J.). § 132l Versorgung mit außerklinischer Intensivpflege, Verordnungsermächtigung [§ 132l SGB V]. In Gesetze im Internet. Abgerufen am 3. Juli 2025, von https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__132l.html
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